Berliner Morgenpost: Ein verbotener "Polizeiruf 110" zum 40-Jährigen

Donnerstag, 23. Juni 2011 02:24 – Von Ekkehard Kern

Beim „Polizeiruf“ ging es um eine möglichst nahe Position zum wirklichen Leben, sagt Erich Selbmann, der lange stellvertretender Chef des DDR-Fernsehens war. Dass diese Wirklichkeitsnähe stets vom Ministerium des Innern akribisch überwacht wurde – es wurde hingenommen und im Idealfall merkte der Zuschauer nichts davon.

Nur wenige Monate nach dem 40-jährigen „Tatort“-Jubiläum feiert am 27. Juni nun also das einstige DDR-Pendant, der „Polizeiruf 110“, seinen 40-sten. 1971, ein Jahr nachdem die ARD ihre bald zum Dauerbrenner gewordene Krimireihe startete, soll Honecker persönlich ein ähnliches TV-Format für das DDR-Fernsehen angeordnet haben. Schließlich konnte und wollte man sich nicht damit abfinden, dass der „Tatort“ auch zur erfolgreichsten Reihe im Osten wird.

Von vornherein galten beim „Polizeiruf“ allerdings eine Reihe von Regeln ideologischer Art, denen sich die Fernsehmacher unterzuordnen hatten. So war der Täter – zumindest in den ersten Jahren – stets ein Einzelgänger, ein Irrläufer der Gesellschaft. Getreu dem Motto: Wer eine Strumpfmaske überzieht, der ist garantiert kein Genosse. Und erst recht kein Parteisekretär. Allerdings tut man der Serie Unrecht, wenn man sie lediglich als Rädchen im Propagandaapparat der Diktatur sieht.

„Wir haben gerne ‚Polizeiruf‘ gemacht, weil es immer recht ehrliche Filme waren“, sagt Henry Hübchen, der damals meist auf die Rolle des Schurken abonniert war und einer der wenigen Schauspieler ist, der seinen Erfolg ins wiedervereinigte Deutschland zu transponieren vermochte. Über die Jahrzehnte hat sich das Format des „Polizeiruf“ stark verändert und war bisweilen selbst dem bundesdeutschen „Tatort“ einen Schritt voraus. So durfte mit Sigrid Reusse als Leutnant Vera Arndt zum ersten Mal eine Frau im deutschen Fernsehen ermitteln. Auch war man stets bemüht, gesellschaftliche Phänomene authentisch abzubilden.

Es war im November 1974, als das Ministerium des Innern den „Polizeiruf“-Machern einen internen Lehrfilm der Polizei vorführte. Er handelte vom sogenannten Fall Hagedorn. Ein minderjähriger „Mitropa“-Lehrling hatte zwischen 1969 und 1971 drei Jungen bestialisch getötet. Diese Mordserie löste die bis dahin größte Polizeiaktion der DDR aus. Später wurde Hagedorn zum Tode verurteilt. Der Fall selbst sollte damals nicht verfilmt werden, aber Anlass sein, mit der Krimireihe über Sexualstraftaten aufzuklären. Was auch prompt passierte. Die Fakten der Geschichte wurden verfremdet, der Film abgedreht – fast. Denn kurz vor dem letzten Drehtag verweigerte die Polizei urplötzlich die Zusammenarbeit mit dem Fernsehteam, alles erstellte Material sollte vernichtet werden.

Erst 2009, am Rande einer filmhistorischen Recherche, stieß der Autor Thomas Gaevert auf eine Kopie des Drehbuchs. Glücklicherweise war auch das Kameranegativ, wenngleich auch stumm, der angeordneten Vernichtung entgangen. Heute erlebt die Folge „Im Alter von…“ nun ihre späte TV-Premiere. Dass dabei mit Jaecki Schwarz, Wolfgang Winkler, Isabell Gerschke, Andreas Schmidt-Schaller und Anneke Kim Sarnau spätere „Polizeiruf“-Kommissare ihre Kollegen von damals synchronisieren, war eine Idee der MDR-Redaktion. Die Rekonstruktion des zeithistorisch wertvollen TV-Films ist geglückt.

Im Anschluss an die Folge der TV-Reihe zeigt das MDR-Fernsehen heute Abend eine „Tatort“-Nacht sowie um 21.25 Uhr die Dokumentation „40 Jahre Polizeiruf – Eine Erfolgsstory“. Sie erzählt die Geschichte des DDR-Formats von den biederen Anfängen bis hin zur Wendezeit, von hölzerner Erzählweise bis hin zu spannenden filmischen Sozialstudien.

Auch wird im Film spekuliert, was genau dazu führte, dass die oben besprochene TV-Folge niemals im Ost-Fernsehen ausgestrahlt wurde. Die DDR-Oberen hätten einen Skandal in den westlichen Medien befürchtet, heißt es. Schließlich wurde im Fall Hagedorn damals die Todesstrafe gegen einen Minderjährigen vollstreckt. Andreas Schmidt-Schaller wurde ab 1984 zu einer Art Ost-Schimanski und – wer hätte das gedacht? – die „Polizeiruf“-Reihe war ein Exportschlager. Sie wurde bis nach Arabien, Spanien und Finnland exportiert, lief in vielen Ländern gar zeitweise in den Kinos. Seit dem Start am 27. Juni 1971 im Deutschen Fernsehfunk sind 320 Folgen der Reihe ausgestrahlt worden, mehr als die Hälfte davon in der ARD.

Für 2011 sind neun neue Folgen geplant. 109 Kommissare wirkten bisher mit: Im Jubiläumsjahr kommen mit Maria Simon als neue Brandenburger Kommissarin sowie Matthias Brandt und Anna Maria Sturm als neues Münchener Ermittlerteam drei weitere hinzu. Simon feiert ihren Einstand an der Seite von Serien-Urgestein Horst Krause in der Jubiläumsfolge „Die verlorene Tochter“ am 26. Juni (ARD, 20.15 Uhr). Das bayerische Duo startet Mitte August.

Polizeiruf-Abend im MDR „Im Alter von…“ (20.15 Uhr), Doku „40 Jahre Polizeiruf – Eine Erfolgsstory“ (21.25 Uhr), ab 23 Uhr lange Nacht mit alten „Polizeiruf“-Folgen.

BZ News aus Berlin: DIE POLIZEIRUF-FOLGE "IM ALTER VON ..." WURDE 1974 VERBOTEN UND SOLLTE VERNICHTET WERDEN.

MDR zeigt den Krimi, den die DDR nicht sehen sollte

22. Juni 2011 03.20 Uhr, BZ

Erst mit 36 Jahren Verspätung kann Folge 30 der „Polizeiruf 110“-Reihe im TV gezeigt werden. Weil die DDR-Bonzen damals Angst vor einem einfachen Krimi hatten.

Am Donnerstag zeigt der MDR den Krimi „Im Alter von …“ (20.15 Uhr ). Und die Geschichte dieses Filmes liest sich selbst wie ein Krimi: Anfang der 70-Jahre hatte Regisseur Heinz Seibert begonnen, an einem Drehbuch über einen Sexualstraftäter zu schreiben. Als Vorlage diente der Fall Erwin Hagedorn. Der Lehrling hatte drei Jungen ermordet, wurde 1972 zum Tode verurteilt und hingerichtet. Für den TV- Krimi veränderte Seibert den Fall, im Mittelpunkt sollte die Ermittlungsarbeit der Polizei stehen.Doch kurz vor dem letzten Drehtag begann das Innenministerium der DDR, das Drehteam zu schikanieren. Komparsen wurden abgezogen, technische Geräte entfernt. Der Regisseur konnte gerade noch eine Rohfassung schneiden, bis ein Bereichsleiter des Ministeriums den Regisseur, den Kameramann und den Dramaturgen einlud. „Uns wurde eröffnet, dass der Film gestoppt wird und nicht gesendet werden kann. Wir waren alle ziemlich gelähmt, weil das nicht nachvollziehbar war“, erinnert sich der damalige Dramaturg, Eberhard Görner.Es sollte aber noch schlimmer kommen. Das Innenministerium wies an, sämtliche Rohschnitte, Aufzeichnungen und Drehbücher des Films zu vernichten. Der Film geriet in Vergessenheit.Erst 34 Jahre später wurde ein Kameranegativ des Rohschnitts zufällig unter einer Kellertreppe gefunden. Allerdings ohne Ton. Erst als eine Kopie des Drehbuchs bei der mittlerweile verstorbenen Co-Autorin Dorothea Kleine gefunden wurde, konnte der MDR das Projekt Rekonstruierung weiterverfolgen. Allerdings waren die meisten Darsteller des verbotenen Filmes mittlerweile verstorben. Die neue Synchronisation übernahmen aktuelle Schauspieler der „Polizeiruf“-Reihe, wie Jaecki Schwarz oder Wolfgang Winkler. Übrigens haben der Regisseur und die anderen Beteiligten erst nach der Wende erfahren, warum „Im Alter von …“ vernichtet werden sollte: Die DDR-Bonzen hatten Angst, der Film könne in der westdeutschen Presse zu großes Aufsehen erregen.

Der Westen: Zensierter „Polizeiruf 110“ wird am Donnerstag endlich ausgestrahlt

Panorama, 22.06.2011, Angelika Wölke

Essen. Das DDR-Regime verbat die Episode, die am Donnerstag endlich ausgestrahlt wird. Der „Tatort“ des Ostens ist zu seinem 40. Geburtstag längst auch im Westen ein Klassiker. Nach dem Krimi blickt der MDR zurück auf düstere DDR-Tage.

Tatort DDR. Ende der 60er-Jahre schockiert eine Mordserie an drei Jungen die Region um Eberswalde, Brandenburg. Als die Polizei den minderjährigen Mitropa-Lehrling Erwin Hagedorn als Mörder überführt, zeigt sie die schockierenden Filme ihrer Ermittlungsarbeit den Drehbuchautoren des „Polizeiruf 110“. Die Autoren Dorothea Kleine und Heinz Siebert sollten den Fall zwar nicht kopieren, die brutalen Verbrechen aber zum Anlass nehmen, um im beliebten „Polizeiruf“ über grausame Sexualstraftaten aufzuklären.

Das taten sie auch. Mit nur einem misshandelten Jungen und einem älteren Täter entwickelten sie das Buch unter dem Arbeits-Titel „Am hellerlichten Tag“. Zunächst lief auch alles planmäßig. Das Ministerium des Inneren (MdI) unterstützte die Filmcrew auf bewährte Art: Bei Massenszenen wurden Mitarbeiter der Staatspolizei eingesetzt, neue Polizei-Errungenschaften wie moderne Hubschrauber sollten der Bevölkerung propagandamäßig die Schlagkraft des Regimes gegen das Böse verdeutlichen. Doch kurz vor Ende der Dreharbeiten kippte die Stimmung. Das Material wurde beschlagnahmt, die Ausstrahlung verboten. Eine Begründung: Fehlanzeige.

Ausflug in die Geschichte

Erst 2009 wurden Rohmaterial und Drehbuch wieder entdeckt. Der MDR ließ den „Polizeiruf 110“ unter dem Titel „Im Alter von …“ rekonstruieren und strahlt ihn am 40. Geburtstag der Antwort des DDR-Fernsehens auf den westdeutschen „Tatort“ am Donnerstag um 20.15 Uhr aus. Es ist ein beeindruckender Ausflug in die Geschichte des großen „Tatort“-Rivalen, aber auch ein Teil Filmgeschichte der früheren DDR.

Im Anschluss wird „Die Erfolgsstory“ des unverwüstlichen Ost-Krimis (MDR, 21.25 Uhr) beleuchtet.

Darin geht’s nicht nur um den gesellschaftlichen Auftrag einer Polizeiserie im real existieren Sozialismus, sondern Autor Heinz Seibert liefert auch die ersehnte Erklärung für den medialen Mord an seinem Stoff.

Widerrechtlich zum Tode verurteilt

Weil ein West-Journalist 1974 herausfand, dass das Honecker-Regime den minderjährigen Täter widerrechtlich zum Tode verurteilt und umgebracht hatte, fürchtete die SED-Führung damals einen internationalen Skandal. Und so musste alles, was an den Fall erinnert, und sei es nur ein fiktionaler Krimi, mundtot gemacht werden.

Die Reihe hat bekanntlich den Fall der Mauer überlebt. Sie etablierte sich neben dem „Tatort“ auf dem angesehensten Sendeplatz des deutschen Fernsehens, Sonntag, 20.15 Uhr, hat es in vier Jahrzehnten auf 320 Folgen gebracht und sich mit dem Ermittlerpaar Matthias Brandt und Anna Maria Sturm (BR) nicht nur produktionstechnisch nach Westen gemacht. Der „Polizeiruf 110“ gilt gelegentlich als betulich. Ermittler wie Charly Hübner und Anneke Kim Surau (NDR) brachten allerdings frischen Wind in die Reihe.

Mord ohne Leiche

Zur „Geburtstagsfeier“ im Ersten, Sonntag, 20.15 Uhr, betritt mit Hauptkommissarin Olga Lenski (Maria Simon) eine neue Potsdamer Ermittlerin den Tatort. Frisch, frech, jung kommt sie daher und muss sich als Krauses (Horst Krause) neue Chefin durchsetzen. Auf der Suche nach der „verlorenen Tochter“ (Titel) spielt sie eine eher unkonventionelle Rolle: Sie ermittelt in einem Krimi – soviel sei verraten – ohne Leiche. Der Geschichte von Bernd Böhlich tut es keinen Abbruch. Die Erfolgsgeschichte, die am 27. Juni 1971 begann, geht weiter.

Deutschlandfunk: Krimikind der DDR 40 Jahre "Polizeiruf 110"

22.06.2011 · 17:35 Uhr

Von Beatrix Novy

Authentische Lebensverhältnisse, Figuren von anrührender Normalität, dazu der Hintergrund der vergangenen DDR-Ästhetik und Begegnungen mit Henry Hübchen, Jenny Grölmann, Ulrich Mühe – es gibt viele gelungene „Polizeirufe“.

„Anfang November wurden wir zum Gespräch eingeladen, von Engelhardt, und da wurde uns eröffnet, dass der Film gestoppt wird und nicht gesendet werden kann.“

1975 wurde das Team der Polizeiruf 110-Reihe im Fernsehen der DDR darüber aufgeklärt, dass ein gerade abgedrehter Film nicht gesendet, das Material vernichtet werden sollte. So hatte es das Ministerium des Innern beschlossen und so hatte man das hinzunehmen damals. In diesem Fall waren die Fernsehleute besonders überrascht, weil der Film, die Geschichte eines pädophilen Mörders, schon abgedreht war, und zwar unter den Augen des Ministeriums. Wie bei jeder Polizeiruf-Folge war es über seine polizeilichen Fachberater dabei gewesen.

„Oberst Nettwig war der Chef der Hauptabteilung Kriminalpolizei im Ministerium des Innern. Er war unser oberster Berater. Ich persönlich hatte mit Nettwig ein sehr gutes Verhältnis, weil er uns alle Möglichkeiten gegeben hat.“

Hans-Jürgen Faschina, Dramaturg der ersten Polizeiruf-Jahre, war nicht unzufrieden mit dieser Begleitung; tatsächlich hatte sie ja den Vorteil, dass die Arbeit der Polizei, die Fälle, die Ermittlungsmethoden, wie ein offenes Buch vor den Fernsehleuten aufgeschlagen wurde. Realistisch sollte es zugehen, wirklich realistisch, und das unterschied den alten DDR-Polizeiruf nicht nur von seiner direkten Konkurrenz, dem Tatort. Hier wie dort wurden Themen und Figuren aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit entwickelt; dass in der DDR ein ausgeprägtes pädagogisches Interesse, ein allgemein belehrender Habitus hinzukam, versteht sich.

„Sie hatte seinerzeit ein Verhältnis mit diesem hier. Martin Bone heißt er. Ein leichtsinniger Knabe.“

Allgemein haftete vielen Tätern besonders der frühen Polizeiruf-Folgen die Traurigkeit von Menschen an, die sich freiwillig dem warmen Nest des Kollektivs entfremden, wozu doch

eigentlich kein Grund bestand im Arbeiter- und Bauernstaat. Die Gesetzeshüter im Polizeiruf wiederum waren Welten entfernt von ihren Kollegen im Westen. Ihr Privatleben bleibt draußen, das Zweideutige des schwarzen Genres, die Faszination, die spiegelbildliche Affinität zum kriminellen Gegenüber war diesen Bürokraten des Rechts, die auch beim renitentesten Verdächtigen die Ruhe bewahren, fremd.

So entsteht im Zuschauer die paradoxe Empfindung, ausgerechnet hier dem Rechtsstaat beim Funktionieren zuzusehen, während sich die notorisch übergriffigen Tatort-Ermittler wieder mal durch die Gegend ballern. Mord spielt im Polizeiruf die Rolle wie im wirklichen Leben: Er kommt selten vor.

„Was würdest Du anstellen, um den Alten loszuwerden, und das Geld zu kriegen?“ „Du kannst Fragen stellen. Also umbringen würde ich ihn nicht.“
„Siehste. Das denke ich eben auch.“

Stattdessen akribische Kleinarbeit beim Aufklären von Raub, Diebstahl, Vandalismus, Trickbetrug und auch, danke dafür, mörderisches Autofahren. Hier konnte man zur Sprache bringen, dass in der DDR Individuum und sozialistisches Ideal durchaus nicht zur Deckung kamen. Die Gier nach gesellschaftlichem Aufstieg und Geld oder auch nach dem notwendigen Material für die Datsche reißt auch die Anständigen mit , wenn die Skrupellosen sie verführen.

„Ach übrigens: Ich hab da zwei Bestellungen laufen, für so elektrische Handbohrmaschinen. Hätten Sie Interesse?
„Mit Schlagbohrvorsatz? Also, das ist ein Angebot, das sage ich nicht nein. Eine Bohrmaschine!“

So ist die idyllische Datsche am See häufig Handlungsort. So wird aber auch die Materialunterschlagung im sozialistischen Betrieb immer mehr beliebtes Thema. Während in allen Polizeiruf-Filmen die Gaststätten immer nett bewirtschaftet, die Läden immer voll mit Waren sind, also reichlich an der DDR-Realität vorbei, dringt die Kunde von der Mangel- und Maggelwirtschaft in solchen Geschichten doch an die Oberfläche.
Authentische Lebensverhältnisse, Figuren von anrührender Normalität, dazu der Hintergrund der vergangenen DDR-Ästhetik und Begegnungen mit Henry Hübchen, Jenny Grölmann, Ulrich Mühe – es gibt viele gelungene Polizeirufe.

Die verbotene Folge „Im Alter von … „, die der MDR jetzt rekonstruiert hat, gehört nicht dazu. Sie sorgt für eine politische Erinnerung: Angeregt war dieser Krimi vom Fall eines jugendlichen Triebmörders, der zum Tode verurteilt und hingerichtet worden war. Das war im Westen bekannt geworden. Und daran mit einem Film zu erinnern, war der unangenehm geworden.

© 2011 Deutschlandradio

DIE WELT: Parteisekretäre sind doch keine Mörder

23.06.11

„Polizeiruf 110“ wird vierzig – und feiert mit einer einst verbotenen Folge

Von Ekkehard Kern

Der rekonstruierte Film, im DDR-Fernsehen nie ausgestrahlt, erzählt die Geschichte eines pädophilen Sexualstraftäters

Beim „Polizeiruf“ ging es um eine möglichst nahe Position zum wirklichen Leben, sagt Erich Selbmann, der lange stellvertretender Chef des DDR-Fernsehens war. Dass diese Wirklichkeitsnähe stets vom Ministerium des Innern akribisch überwacht wurde – es wurde hingenommen und im Idealfall merkte der Zuschauer nichts davon.

Nur wenige Monate nach dem „Tatort“-Jubiläum feiert am 27. Juni nun also auch das einstige DDR-Pendant, der „Polizeiruf 110“, 40. Geburtstag. 1971, ein Jahr nachdem die ARD ihre bald zum Dauerbrenner gewordene Krimireihe startete, soll Erich Honecker persönlich ein ähnliches TV-Format für das DDR-Fernsehen angeordnet haben, einen „sozialistischen Gegenwartskriminalfilm“. Schließlich konnte und wollte man sich nicht damit abfinden, dass der „Tatort“ auch zur erfolgreichsten Reihe im Osten Deutschlands wird.

Von vornherein galt beim „Polizeiruf“ allerdings eine Reihe von Regeln ideologischer Art, denen sich die Fernsehmacher unterordnen mussten. So war der Täter – zumindest in den ersten Jahren – stets ein Einzelgänger, ein Irrläufer der Gesellschaft. Getreu dem Motto: Wer eine Strumpfmaske überzieht, der ist garantiert kein Genosse. Und erst recht kein Parteisekretär. Allerdings tut man der Serie Unrecht, wenn man sie als Rädchen im Propagandaapparat der Diktatur sieht. „Wir haben gerne ,Polizeiruf‘ gemacht, weil es immer recht ehrliche Filme waren“, sagt Henry Hübchen, der damals meist auf die Rolle des Schurken abonniert war und einer der wenigen Schauspieler ist, der seinen Erfolg ins wiedervereinigte Deutschland zu transponieren vermochte. Über die Jahrzehnte hat sich das Format des „Polizeiruf 110“ stark verändert und war bisweilen selbst dem bundesdeutschen „Tatort“ einen Schritt voraus. Überhaupt durfte mit Sigrid Reusse als Leutnant Vera Arndt zum ersten Mal eine Frau im deutschen Fernsehen ermitteln. Auch war man stets bemüht, gesellschaftliche Phänomene authentisch abzubilden.

Es war im November 1974, als das Ministerium des Innern den „Polizeiruf“-Machern einen internen Lehrfilm der Polizei vorführte. Er handelte vom sogenannten Fall Hagedorn. Ein minderjähriger „Mitropa“-Lehrling hatte zwischen 1969 und 1971 drei Jungen bestialisch getötet. Diese Mordserie löste die bis dahin größte Polizeiaktion der DDR aus. Später wurde Hagedorn zum Tode verurteilt. Der Fall selbst sollte damals nicht ins Fernsehen kommen, aber Anlass sein, mit der Krimireihe über Sexualstraftaten aufzuklären. Was auch prompt passierte. Die Fakten der Geschichte wurden verfremdet, die „Polizeiruf“-Episode abgedreht – fast. Denn kurz vor dem letzten Drehtag verweigerte die Polizei urplötzlich die Zusammenarbeit mit dem Fernsehteam, alles erstellte Material sollte vernichtet werden.

Erst 2009, am Rande einer filmhistorischen Recherche, stieß der Autor Thomas Gaevert auf eine Kopie des Drehbuchs. Glücklicherweise war auch das stumme Kameranegativ der angeordneten Vernichtung entgangen. Dass in der heute erstausgestrahlten Folge „Im Alter von…“ mit Jaecki Schwarz, Wolfgang Winkler, Isabell Gerschke, Andreas Schmidt-Schaller und Anneke Kim Sarnau spätere „Polizeiruf“-Kommissare ihre Kollegen von damals synchronisieren, war eine Idee der MDR-Redaktion. Die Rekonstruktion des zeithistorisch wertvollen TV-Films ist geglückt.

Im Anschluss an die Folge der TV-Reihe zeigt das MDR-Fernsehen heute Abend eine „Tatort“-Nacht sowie um 21.25 Uhr die Dokumentation „40 Jahre Polizeiruf – Eine Erfolgsstory“. Sie erzählt die Geschichte des DDR-Formats von den biederen Anfängen bis hin zur Wendezeit, von hölzerner Erzählweise bis hin zu spannenden Sozialstudien.

Auch wird im Film spekuliert, was genau dazu führte, dass die oben besprochene TV-Folge niemals im Ost-Fernsehen ausgestrahlt wurde. Die DDR-Oberen hätten einen Skandal in den westlichen Medien befürchtet, heißt es. Schließlich wurde im Fall Hagedorn damals die Todesstrafe gegen einen Minderjährigen vollstreckt. Andreas Schmidt-Schaller wurde ab 1984 zu einer Art Ost-Schimanski und – hätten Sie’s gewusst? – die „Polizeiruf“-Reihe war ein Exportschlager. Sie wurde bis nach Arabien, Spanien und Finnland exportiert, lief in vielen Ländern gar zeitweise in den Kinos. Seit dem Start am 27. Juni 1971 im Deutschen Fernsehfunk sind 320 Folgen der Reihe ausgestrahlt worden, mehr als die Hälfte davon in der ARD.

Für das Jahr 2011 sind neun neue Folgen geplant. 109 Kommissare wirkten bisher mit: Im Jubiläumsjahr kommen mit Maria Simon als neue Brandenburger Kommissarin sowie Matthias Brandt und Anna Maria Sturm als neues Münchener Ermittlerteam drei weitere hinzu. Simon feiert ihren Einstand an der Seite von Serien-Urgestein Horst Krause in der Jubiläumsfolge „Die verlorene Tochter“ am 26. Juni (20.15 Uhr, Das Erste). Das bayerische Duo startet Mitte August.

Polizeiruf 110: Im Alter von …, 20.15 Uhr, MDR.

DWDL.de - Das Medienmagazin: "Im Alter von..." Großes Interesse an einst verbotenem "Polizeiruf"

von Uwe Mantel am 24.06.2011 um 09:31 Uhr

Der „Polizeiruf 110: Im Alter von…“, der 1974 in der DDR verboten, weitgehend vernichtet und vom MDR nach dem Fund von ungeschnittenem Rohmaterial nun rekonstruiert wurde, bescherte dem MDR Fernsehen am Donnerstag starke Quoten.

Am 27. Juni 1971 lief im DDR-Fernsehen der erste „Polizeiruf 110“, der damals als Gegenstück zum westdeutschen „Tatort“ auf den Weg gebracht wurde und als eines der wenigen Formate auch die Wiedervereinigung überlebt hat. Anlässlich dessen gab es am Donnerstag im MDR Fernsehen einen kompletten „Polizeiruf 110“-Abend zu sehen, im Rahmen dessen auch der einst verbotene „Polizeiruf 110: Im Alter von…“ gezeigt wurde.

Die Folge widmete sich dem Thema Sexualstraftaten, nachdem in den Jahren zuvor drei Jungen auf brutale Weise ermordet worden waren. Während der Dreharbeiten distanzierte sich das Innenministerium der DDR allerdings unerwartet von dem Film, die Leitung des Fernsehens der DDR brach daraufhin die Produktion ab. Erst 2009 tauchte das ungeschnittene Negativ-Material im Deutschen Rundfunkarchiv wieder auf, allerdings ohne Ton. Später wurde auch eine Kopie des Drehbuchs gefunden. Auf Basis dessen ließ der MDR den Original-Film rekonstruieren und durch aktuelle „Polizeiruf“-Darsteller synchronisieren.

Das Interesse an dem verbotenen „Polizeiruf“ war am Donnerstagabend groß: 1,89 Millionen Zuschauer sahen sich die 71-minütige Folge an, das reichte beim Gesamtpublikum für einen Marktanteil von 6,3 Prozent – das war rund drei Mal so viel wie das MDR Fernsehen sonst im Schnitt erreicht. Auch bei den jüngeren Zuschauern lief es für MDR-Verhältnisse überaus gut: 4,0 Prozent betrug der Marktanteil bei den 14- bis 49-Jährigen. Der Film „Sonntagsvierer“ kam im Ersten zur gleichen Zeit übrigens nur auf 2,8 Prozent Marktanteil in dieser Altersgruppe.

Auch mit dem Rest des „Polizeiruf“-Abends dürfte man beim MDR zufrieden sein: 1,3 Millionen Zuschauer blieben bei der nachfolgenden Doku „40 Jahre Polizeiruf – Eine Erfolgsstory“ dran, der Marktanteil hielt sich bei starken 4,4 Prozent beim Gesamtpublikum. Das Porträt der beiden „Polizeiruf“-Kommissare Jaecki Schwarz und Wolfgang Winkler tat sich nach dem eingeschobenen „MDR aktuell“ hingegen etwas schwerer und blieb mit im Schnitt 580.000 Zuschauern bei 2,6 Prozent Marktanteil hängen. Ein weiterer „Polizeiruf 110“ kam ab 23 Uhr dann mit 470.000 Zuschauern wieder auf gute 3,2 Prozent Marktanteil.

FAZ: Verbotener „Polizeiruf“ - Das war Erich Honeckers Idee

Der MDR zeigt einen frühen „Polizeiruf“ über die Morde eines Pädophilen, den in der DDR niemand sehen sollte, obwohl die Idee vom Innenministerium stammte. Heute ist die Folge „Im Alter von …“ ein historisches Zeugnis absurder Zensur.

Von Heike Hupertz

23. Juni 2011 Wem ist heute geläufig, dass die Idee zu einem der beliebtesten Serienformate im öffentlich-rechtlichen Fernsehen vom DDR- Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker persönlich stammt? Nicht nur das Ministerium des Inneren (MdI) nahm zu DDR-Zeiten durch „Fachberater“ Einfluss auf den Deutschen Fernsehfunk DFF, Honecker selbst kümmerte sich um die Klassenkampfprogrammierung. Weil das Ost- Publikum die begehrlichen Blicke vorzugsweise auf das Fernsehen des Klassenfeinds richtete, war Programmgestaltung hochpolitisch.

Im Frühjahr 1971, wird kolportiert, sprach Honecker ein Machtwort gegen die Langeweile des DDR-Fernsehens. Seit November 1970

lief der „Tatort“ im Westen. Eine Provokation, zumal Hauptkommissar Trimmel (Walter Richter) zum Auftakt auch noch heimlich mit dem „Taxi nach Leipzig“ gefahren war. Ein DDR-“Tatort“ sollte her, keine Kopie, sondern ein eigenständiges Produkt. „Überholen, ohne einzuholen“, lautete die Parole. „Es war die Absicht, einen sozialistischen Gegenwartskriminalfilm zu schaffen, als Kontrapunkt und Konkurrenz zum ,Tatort’“, sagt der Dramaturg Eberhard Görner. Von Beginn an war das Ministerium mit im Boot, prüfte Drehbücher und stellte Berater, Material und Polizeistatisten zur Verfügung. Im Juni 1971 trat Hauptmann Peter Fuchs (Peter Borgelt) mit Leutnant Vera Arndt (Sigrid Göhler) und der kollektiv ermittelnden „Einsatzgruppe Fuchs“ auf den Plan. Der „Polizeiruf 110“ wurde sofort zum Ost-Straßenfeger.

Ein politisch hochnotpeinliches Drama

In der informativen, leicht selbstbeweihräuchernden Dokumentation „40 Jahre Polizeiruf – Eine Erfolgsstory“ gräbt der MDR tief in die Fernsehhistorie und fördert dabei eine brisante Geschichte zutage; einen verschollenen und vernichtet geglaubten „Polizeiruf“, der 1974 unter dem Arbeitstitel „Am hellerlichten Tag“ gedreht und – verboten wurde. Ganz neu ist die Geschichte allerdings nicht. Schon 2009 forderten wir den MDR auf, das gefundene Material als Zeitdokument zu restaurieren und zu senden (siehe Dreihundertste Folge Polizeiruf 110: Im Tal der verlorenen Kinder). Geraume Zeit auch gab es im Internet ein „Polizeiruf 110“-Lexikon als privates Projekt des Filmhistorikers Gerhard Gehle, der mit einigen Mitarbeitern zahlreiche Fakten zum Film recherchierte. Gefunden worden war das Material bei der Aufarbeitung des Rundfunkarchivs Babelsberg.

Eine Drehbuchkopie entdeckte man schließlich bei der Autorin Dorothea Kleine, womit es möglich wurde, das tonlose Rohschnittmaterial nachzusynchronisieren. Nun spricht „Polizeiruf“-Haudegen Jaecki Schwarz beispielsweise Major Wegner, den Vorgesetzten von Fuchs, Anneke Kim Sarnau leiht Leutnant Arndt ihre Stimme. Der Film selbst, den der MDR unter dem Titel „Im Alter von …“ jetzt ebenfalls sendet, gibt kaum Hinweise auf das politisch hochnotpeinliche Drama, das sich hinter den Kulissen abgespielt haben muss. Man fasst es nicht, zumal die Anregung zum Film vom DDR-Innenministerium selbst stammte.

Sorge um den Ruf in der Welt

Am 24. November 1972 hatten die Fachberater des MdI die „Polizeiruf“-Beteiligten zu einer Filmvorführung eingeladen. Gezeigt wurde ein Lehrfilm, in dem der Mitropa-Lehrling Erwin Hagedorn seine sexuell gefärbten Morde an mehreren Jungen detailliert nachspielt. Den Fall

als solchen wollte man nicht behandelt sehen, aber vor Pädophilen sollte gewarnt werden, befand das MdI. Die Autoren bemühten sich, den Fall zu verfremden. Das Drehbuch wurde eingereicht und mit wohlwollendem Resultat geprüft. Am 10. September 1974 begannen die Dreharbeiten. Das MdI stellte Personal und Mannschaftswagen zur Verfügung. Kurz vor dem Ende des

letzten Drehtags sollten die Arbeiten plötzlich eingestellt und das Filmmaterial vernichtet werden. Für Regisseur Heinz Seibert ist es der letzte „Polizeiruf“. Er ist in Ungnade gefallen. Es ist ein Fall von beispielhafter Zensurwillkür. Der Grund für das Verbot nämlich hat mit dem Film überhaupt nichts zu tun. Sondern ausschließlich mit der „Westpresse“. Das erfahren die Beteiligten aber erst nach der Wende.

Kurz vor Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte in Helsinki sorgte man sich an höchster DDR-Stelle verstärkt um seinen Ruf in der Welt. Nachdem der Journalist und „Tatort“- Autor Friedhelm Werremeier in mehreren Artikeln das Urteil gegen Hagedorn, der hingerichtet worden war, obwohl er zum Tatzeitpunkt noch nicht volljährig war, als Urteil einer DDR-Willkürjustiz angeprangert hatte, fürchtete man einen Skandal in den westlichen Medien. Der Fall Hagedorn sollte schlicht vom Radar verschwinden. Nun zieht „Im Alter von …“ ohnehin keine Parallelen zu den Hagedornschen Taten. Nur das Delikt ist gleich. Wenn der MDR also den heute betulich wirkenden „Polizeiruf“ zeigt, so besteht sein nicht geringes Verdienst darin, unmittelbar vor Augen zu führen, wie wenig genügte, um Staats- und Parteiapparat zum Zensuramoklauf zu treiben.

Im Alter von … zeigt der MDR am Donnerstag um 20.15 Uhr, die Dokumentation 40 Jahre Polizeiruf läuft anschließend um 21.25 Uhr.

Freie Presse, 25. 0.6. 2011:

Rekonstruierter DDR-Polizeiruf erreicht fast zwei Millionen Zuschauer

Quote in Mitteldeutschland bei 26,3 Prozent

Leipzig (dapd-lth). Den rekonstruierten DDR-„Polizeiruf 110“ von 1974 haben am Donnerstagabend deutschlandweit 1,9 Millionen Zuschauer gesehen. Das sei ein neuer Jahreshöchstwert für den Sender, teilte der MDR am Freitag in Leipzig mit. Die Quote habe bundesweit bei 6,3 Prozent gelegen, in Mitteldeutschland bei 26,3 Prozent.

Der Krimi „Im Alter von…“ befasst sich mit Pädophilie in der DDR. Kurz vor Fertigstellung hatte das Innenministerium in Ost-Berlin jedoch den Abbruch der Produktion angeordnet, 2009 tauchte das unvertonte und ungeschnittene Material sowie eine Kopie des Drehbuchs wieder auf und wurde rekonstruiert. Die heutigen Polizeiruf-Kommissare Jaecki Schwarz und Wolfgang Winkler gaben ihren DDR-Kollegen ihre Stimme.

Hamburger Abendblatt, 23.06. 2011: MDR rekonstruiert und sendet verbotenen "Polizeiruf 110"

Die 1974 verbotene und über Jahre verschollene „Polizeiruf 110“-Folge „Im Alter von…“ wird am 23. Juni erstmals im Fernsehen gezeigt.

LEIPZIG. Ein 1974 verbotener und über Jahre verschollener „Polizeiruf 110“ wird am Donnerstag (23. Juni, 20.15 Uhr) erstmals im Fernsehen gezeigt. In dem Film „Im Alter von…“ ermittelt die Polizei in einem Sexualverbrechen an einem elfjährigen Jungen, wie der MDR am Dienstag in Leipzig mitteilte. Die neu synchronisierte Version des Films

Zwischen 1969 und 1971 hatte eine Mordserie die bis dahin größte Polizeiaktion der DDR ausgelöst. Der zur Tatzeit minderjährige Lehrling Erwin Hagedorn hatte damals drei Jungen ermordet. Der Fall sollte nicht verfilmt werden, aber war Anlass, mit einer Folge der Reihe „Polizeiruf 110“ über Sexualstraftaten aufzuklären, wie der Sender weiter mitteilte.

Die Krimiautorin Dorothea Kleine schrieb 1974 ein Szenarium und Heinz Seibert, der bereits bei mehreren Filmen der Reihe „Polizeiruf 110“ Regie geführt hatte, das Drehbuch. Während der Dreharbeiten hatte sich das DDR-Innenministerium aber von dem Film distanziert. Daraufhin ordnete die Leitung des DDR-Fernsehens den Abbruch der Endfertigung an. Das gesamte Material sollte vernichtet werden.

2009 wurde das ungeschnittene Negativmaterial ohne Ton im Deutschen Rundfunkarchiv und später auch eine Kopie des Drehbuchs gefunden. Der Film wurde daraufhin mit aktuellen Darstellern der „Polizeiruf“-Reihe wie Jaecki Schwarz, Wolfgang Winkler und Isabell Gerschke synchronisiert.

InSüdthüringen.de: Das Böse im Visier

erschienen: 22.06.2011 00:00 Uhr zuletzt bearbeitet: 22.06.2011 09:32 Uhr

Kleinarbeit statt Action-Szenen, Ermittler im Anzug statt im Parka: Die vor 40 Jahren als Pendant zum „Tatort“ gestartete Krimireihe „Polizeiruf 110“ hatte stets ihr eigenes Profil – das gilt bis heute.

Der Klassenkampf machte auch vor dem Krimi nicht Halt: Als im Herbst 1970 im Westfernsehen der „Tatort“ aus der Taufe gehoben wurde, elektrisierte das auch die Staatsführung im Osten. Die Verbrecherjagd begeisterte nämlich das Publikum in der DDR – sofern die Antenne den Empfang zuließ. Erich Honecker persönlich soll eine „gewisse Langeweile“ im DDR-Fernsehen kritisiert und mehr Spannung auf der Mattscheibe gefordert haben. Der „Polizeiruf 110“ wurde als Pendant zum „Tatort“ erfunden.

Am 27. Juni 1971, vor 40 Jahren, gingen die Ermittler um den Genossen Oberleutnant Peter Fuchs (Peter Borgelt) zum ersten Mal auf Verbrechersuche. Im „Fall Lisa Murnau“ ging es um den Raub von 70 000 Mark aus einem Postamt, wobei die Schalterbeamtin, gespielt von Petra Hinze, lebensgefährlich verletzt wurde. „Es war die Absicht, einen sozialistischen Gegenwartskriminalfilm zu schaffen als Kontrapunkt und als Kontraprodukt gegenüber dem Tatort“, sagt Dramaturg und Autor Eberhard Görner in einer Dokumentation, die aus Anlass des Jubiläums entstand. Die Krimireihe schaffte nach 1990 den Sprung vom DFF in die ARD geschafft – und dort sogar auf den prominenten Sonntagabendplatz. Die Sender BR, MDR, NDR und RBB produzieren sie, mit neuen Ermittlerteams und an neuen Schauplätzen. Der Jubiläums-„Polizeiruf“ wird am Sonntag um 20.15 Uhr ausgestrahlt – erstmals ermittelt Maria Simon als Kommissarin Olga Lenski an der Seite von Land-Polizist Horst Krause im Brandenburgischen. Inzwischen gingen rund 300 Folgen über den Sender, sieben Millionen Menschen schauen im Schnitt zu.

Eine Folge fehlte

Mit Sigrid Göhler als Leutnant Vera Arndt hatte der „Polizeiruf“ im Gegensatz zum „Tatort“ von Anfang an eine weibliche Ermittlerin im Boot. Ebenso wie Fuchs und Genosse Oberleutnant Hübner (Jürgen Frohriep) kam auch die Ermittlerin stets korrekt gekleidet zum Dienst, hielt die Dienstvorschriften ein, und zeigte Verständnis für die Angehörigen von Opfern. Privatleben, Saufgelage oder Einzelgänger mit Marotten gab es im sozialistischen Kriminalisten-Kollektiv zunächst nicht. Stattdessen standen die Kleinarbeit im Büro mit dem Honecker-Bild hinter dem Schreibtisch, ein großer Polizeiapparat mit Befehlsgewalt, Sisyphusarbeit der Kriminaltechniker, die Hintergründe einer Tat und die Warnung der Zuschauer vor dem Bösen im Mittelpunkt der Krimis.

Eine Folge aber wurde 1975 nicht ausgestrahlt. Das gesamte Material des Films, dessen Vorlage die Tötung von drei Jungen durch einen pädophil-homosexuellen jungen Mann war, sollte vernichtet werden. Doch die Filmrollen wurden 1990 gefunden und der Streifen mangels Ton mit Synchronsprechern rekonstruiert. Der Film „Im Alter von“ wird nun zum 40. Jubiläum morgen Abend um 20.15 Uhr im MDR ausgestrahlt. Danach gibt es die Dokumentation „40 Jahre Polizeiruf – Eine Erfolgsstory“.

Zu den spektakulären Fällen gehörte der nach authentischer Vorlage gedrehte „Kreuzworträtselfall“ (1988). Um das Verbrechen an einem kleinen Jungen, der tot in einem Koffer an einem Bahndamm in Halle gefunden wurde, zu lösen, wurde in der Realität ein einmaliger Apparat in Gang gesetzt. Nur anhand des ausgefüllten Kreuzworträtsels auf Zeitungspapier, das in dem Koffer lag, wurde der Täter gefunden. Dazu sichteten Ermittler akribisch tonnenweise Altpapier.

Täter waren in den DDR-Filmen aber überwiegend keine sadistischen Mörder – und politisch motivierte Straftäter schon gar nicht. Stattdessen standen Menschen, die anders waren als der durchschnittliche DDR-Bürger – Gestrauchelte, Versager, Trinker, Diebe, Egoisten -, in den Drehbüchern. Mord und Totschlag waren im „Polizeiruf 110“ der DDR sowieso die Ausnahme. Das änderte sich nach der Wende. Zu den „alten Hasen“ zählen mittlerweile Jaecki Schwarz und Wolfgang Winkler, die als Ermittler Schmücke und Schneider seit 1996 in Halle auf Verbrecherjagd gehen. „Wir versuchen, das soziale Umfeld etwas genauer zu betrachten als andere. Das wollen wir beibehalten“, sagt Schwarz zu den Unterschieden.

Pressemitteilung vom 24.06.2011 | 17:20 Mitteldeutscher Rundfunk (MDR) Traumquote fuer verbotenen "Polizeiruf 110" von 1974

Eine Million Zuschauer in Mitteldeutschland verfolgten am Donnerstagabend im MDR FERNSEHEN den „Polizeiruf 110: Im Alter von ?“, fast zwei Millionen bundesweit. Auch am weiteren Abend blieb der Sender Marktfuehrer im MDR-Gebiet.

Eine Million Zuschauer in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thueringen sahen den rekonstruierten „Polizeiruf 110: Im Alter von ?“, 1,89 Millionen wurden im Bundesgebiet gezaehlt. Das entspricht einem Marktanteil von 26,3 Prozent im MDR-Gebiet bzw. 6,3 Prozent bundesweit ? neue Prime-Time-Hoechstwerte des Jahres fuer den Sender! Diese besondere „Polizeiruf“-Folge ist damit der erste Film im MDR FERNSEHEN, der so viele Zuschauer aus dem MDR-Gebiet an die Bildschirme lockte. Mehr als jeder vierte entschied sich gestern um 20.15 Uhr fuer das Fernsehprogramm des MDR.

„Unser Mut, dieses ungewoehnliche und sehr schwierige Projekt anzugehen, ist ueberreich belohnt worden“, freut sich MDR-Fernsehdirektor Wolfgang Vietze ueber den Quoten-Erfolg.

Das MDR FERNSEHEN blieb auch nach der Ausstrahlung des „Polizeirufs“ ueber den gesamten Abend hinweg Marktfuehrer in Mitteldeutschland: 730 000 Zuschauer blieben bei der anschliessenden Dokumentation zum Film „40 Jahre Polizeiruf 110 ? Eine Erfolgsstory“ dran. Das Portrait der aktuellen MDR-„Polizei“-Hauptkommissare Jaecki Schwarz und Wolfgang Winkler um 23.30 Uhr erreichte sehr gute 16 Prozent Marktanteil im Sendegebiet und der „Polizeiruf 110: Der Pferdemoerder“ sogar 19,2 Prozent.

Der rekonstruierte „Polizeiruf 110. Im Alter von ?“ entstand als Produktion der TELEPOOL GmbH im Auftrag von MDR, NDR und RBB 2011 unter Verwendung des Materials des Fernsehens der DDR von 1974 mit freundlicher Unterstuetzung des Deutschen Rundfunk Archivs.

Ausgangspunkt des Films war eine Mordserie Ende der 1950er-Jahre. Der Fall sollte Anlass sein, mit einer Folge der Krimi-Reihe „Polizeiruf 110“ im DDR-Fernsehen ueber Sexualstraftaten aufzuklaeren. 1974 schrieb die Krimiautorin Dorothea Kleine ein Szenarium und Heinz Seibert das Drehbuch. Erzaehlt wird die Geschichte des Jungen Ben, der tot aufgefunden wird. Obwohl die gerichtsmedizinische Untersuchung keinen Hinweis auf eine Sexualstraftat findet, deutet alles auf ein paedophiles Motiv des Taeters hin.

Waehrend der Dreharbeiten distanzierte sich das Ministerium des Innern von diesem Film, die Leitung des Fernsehens der DDR ordnete den Abbruch der Endfertigung an. Erst 2009 konnte das ungeschnittene und unvertonte Negativmaterial im Deutschen Rundfunkarchiv gesichert werden, zudem fand der Autor Thomas Gaevert eine Kopie des Drehbuchs.

Den fehlenden Ton ergaenzten heutige „Polizeiruf“-Kommissare mit ihren Stimmen.

Unter www.mdr.de ist die Entstehungsgeschichte des Films ausfuehrlich beschrieben, ausserdem koennen die Internet-Nutzer sich hier noch an einen Quiz anlaesslich 40 Jahre „Polizeiruf“ beteiligen ? dem Sieger winkt unter anderem eine Statistenrolle bei einer der naechsten MDR-Produktion zur Krimireihe.

Neues Deutschland, 23.06.2011: An einem hellerlichten Tag

Von Katharina Dockhorn

An einem hellerlichten Tag« betitelten die Autoren Dorothea Kleine und Heinz Seibert ihren »Polizeiruf 110«, der im Herbst 1974 gedreht wurde und heute erstmals in RBB und MDR ausgestrahlt wird. In der 40-jährigen Geschichte der beliebten Sendereihe, die auf Forderung von Erich Honecker als Pendant zum westdeutschen »Tatort« im Fernsehen der DDR etabliert wurde und schnell zu einem Quotengaranten wurde, ist es die einzige Folge, die im Panzerschrank verschwand. Das Filmmaterial und alle Unterlagen sollten auf Anweisung des Ministeriums des Innern und der SED-Führung vernichtet werden. Doch wie alle Verbotsfilme haben sie im Staatlichen Filmarchiv der DDR überlebt. 1990 erhält Regisseur Heinz Seibert die erlösende Nachricht. Doch dann verschwindet das Material erneut unter mysteriösen Umständen.

Erst 2009 wird im Deutschen Rundfunkarchiv in Babelsberg, das das Erbe des DDR-Fernsehens betreut, eine stumme Kopie des Rohschnitts gefunden. Wenig später tauchte bei gezielten Recherchen bei den damals an der Produktion

Beteiligten das Drehbuch wieder auf. Dieser Fund machte eine Rekonstruktion möglich, bei der heutige »Polizeiruf«-Kommissare den mittlerweile verstorbenen oder zurückgezogen lebenden Schauspielern des Originals die Stimme liehen. Oliver Stritzel übernahm Peter Borgelt, Jacki Schwarz spricht Stanislaw Niemyska und Anneke Kim Sarnau Sigrid Göhler-Reusse. Andreas Schmidt-Schaller, heute bei der »Soko Leipzig« des ZDF, liegt über Jürgen Frohriep.

Die Geschichte der Folge beginnt mit dem Wiedersehen von Oberleutnant Fuchs (Peter Borgelt) mit einer Jugendfreundin (Wieslawa Niemyska). Als wenig später deren 10-jähriger Sohn ermordet aufgefunden wird, enden die Parallelen zu Dürrenmatts berühmtem Roman »Es geschah am helllichten Tag«. Zwar widerstrebend, letztlich aber einsichtig, beugt sich Fuchs den Befehlen seines Vorgesetzten Major Wegner (Stanislaw Niemyska) und hält sich aus den Ermittlungen heraus.

Der solide, von Heinz Siebert inszenierte Kriminalfall selbst war nicht der Grund für die Aufregung und das Verbot, das den Regisseur, der neben Helmut Krätzig zu den »Vätern« des »Polizeirufs« gehörte, ins berufliche Abseits führte. Seine Entstehungsgeschichte führte zu der außergewöhnlichen Entscheidung. Inspiriert wurde das Buch wie viele »Polizeirufe« von einem wahren Fall. 1969 bis 1971 waren in der Nähe von Eberswalde drei Jungen sexuell missbraucht und anschließend bestialisch ermordet worden. Die systematische Befragung von Schülern führte die Kripo auf die Spur des Mitropa-Gehilfen Erwin Hagedorn, der die Taten schon im ersten Verhör gestand. 1972 wurde er zum Tode verurteilt und erschossen. Zuvor hatte er seine Taten in einem Lehrfilm des DDR-Innenministeriums mit einem Pappmesser und den Kindern der Kriminalisten nachgestellt und umfassend seine Motive erläutert. Dieser Film wurde auch in der für den »Polizeiruf 110« zuständigen Redaktion des DDR-Fernsehens gezeigt. »Es war ein schauerliches Erlebnis, zu beobachten, wie Hagedorn sich regelrecht freispielte, mit welchem Eifer er dabei war, wie er auf Genauigkeit achtete, sich an unbedeutende Details erinnerte und darauf bestand, sie präzise darzustellen,« erinnert sich Heinz Seibert 2008 in einem Radio-Feature. Die Anwesenden seien erschüttert gewesen, erinnert sich Dramaturg Eberhard Görner.

Die Macher wollten über Pädophilie aufklären und Eltern und Gesellschaft ermahnen, auf Kinder aufzupassen. Die Geschichte war von ihnen sehr verfremdet worden. Der Fernseh-Täter ist älter und sein Motiv wurde verändert.

Was die Beteiligten aber nicht beeinflussen konnten, war das politische Umfeld. Der westdeutsche Autor Friedhelm Werremeier, der die Vorlage für den ersten »Tatort« mit dem Titel »Taxi nach Leipzig« verfasst hatte, erfuhr zufällig von

dem in der DDR ansonsten streng geheim gehaltenen Verbrechen während eines Urlaubs in Bulgarien. Er erkannte rasch, dass Hagedorn bei seinen ersten Taten noch minderjährig war und die Todesstrafe nicht hätte verhängt werden dürfen. Das war auch eine unübersehbare Parallele zu dem pädophilen Serienmörder Jürgen Bartsch, der 1962 bis 1966 vier Jungen in der Nähe von Wuppertal ermordet hatte. Das Gericht verhängte gegen den zur Tatzeit ebenfalls noch Minderjährigen eine lebenslange Haftstrafe. Das hatte Werremeier 1968 öffentlich gemacht. Rechtsanwalt Friedrich Karl Kaul bestätigt ihm wenig später die Mordfälle in Eberswalde, bestreitet aber das Todesurteil. Werremeier gelangt 1974 durch die Macht seiner Geldscheine doch an die geheimen Gerichts-Akten. Der Stasi blieb sein Wühlen natürlich nicht verborgen. Die DDR bekam kalte Füße und das Ministerium des Innern signalisierte den ahnungslosen Filmemachern, dass die Geschichte des »Polizeiruf« geändert werden müsse. »Das Opfer sollte Bootsmotoren klauen und dabei erschlagen werden. Gegen Mord hatte man nichts. Aber nicht ein Sexualdelikt, erzählt Heinz Seibert. »Wir haben es nicht verstanden. Und wir haben uns auch ablehnend verhalten müssen, weil zu dem Zeitpunkt eine Änderung des Buches gar nicht mehr möglich gewesen wäre.«

Ebenso wenig lässt sich Werremeier von der Stasi erpressen. Seine Ergebnisse veröffentlichte er 1975 in »Der Fall Heckenrose«. Der von der DDR-Obrigkeit befürchtete Skandal bleibt aus, nach einigen Schlagzeilen verpuffte die Aufregung. Der »Polizeiruf 110« blieb trotzdem im Giftschrank. Seibert gerät ins Abseits. »Es gab kein Berufsverbot. Man hat nur nichts mehr zu tun bekommen. Es war einfach keine Arbeit mehr da«, erinnert sich Seibert an seine Lage. »Es trat das ein, worüber Stefan Heym einmal schrieb: ›Ich bekam die Isolation zu spüren, eine Isolation, wie sie außerhalb des real existierenden Sozialismus kaum vorstellbar ist.‹ Ich weiß nun um die gefährliche Strahlung, die ein von einem offiziellen Bannfluch getroffenes Individuum ausströmt. Ich habe erfahren, wie man mit solchen in politische Ungnade gefallenen ›Individuen‹ umgeht.«

Jetzt ist er endgültig rehabilitiert. Sein berührender Film ist unter dem Titel »Im Alter von …« endlich auf dem Bildschirm.

MDR, 20.15 Uhr, RBB, 27. Juni, 22.30 Uhr

SPIEGEL ONLINE, 23.06.2011: 40 Jahre "Polizeiruf 110" Martinshorn im Trabitakt

Von Nikolaus von Festenberg

Das Sandmännchen ist nicht das einzige TV-Vermächtnis der DDR: Zum 40. Jubiläum der TV-Krimireihe „Polizeiruf 110“ zeigt der MDR eine restaurierte, einst verbotene Episode und schildert den weiten Weg vom pädagischen Staatsfunk-Spektakel zum gesamtdeutschen Kulturkunststück.

Was von Erich Honecker kulturell geblieben ist? Udo Lindenbergs „Sonderzug nach Pankow“ und – Ironie der Geschichte – der „Polizeiruf 110“. Zumindest das Logo der TV-Reihe, das von ebenso genialer Leere zeugt wie die Bezeichnung „Tatort“ beim West-Pendant. In diesen Behältern, die Kontinuität vorspiegeln, lässt sich unterbringen, was unterschiedlicher nicht sein könnte.

Im Fall des „Polizeirufs“ sind das Epochenbrüche und Staatsuntergänge, dienstbeflissene Volkspolizisten ebenso wie borderlinige Einarmige aus Bayern (Edgar Selge), listig weises Mecklenburger Landestheater (Böwe, Steimle) ebenso wie brutal-unkorrekte Computersexspiele („Der scharlachrote Engel“ von Dominik Graf). Unter 110 ist inzwischen fast alles zu erreichen, was unser Fernsehen zu bieten hat.

Kein Platz für Ostalgie

Die 40-jährige Geschichte der Reihe zwingt den idealistischen Oberlehrer in uns zum Umdenken. Da fand, als die ARD den DDR-Fernsehfunk beerbte, keine automatische Selbstbefreiung des DDR-Krimigenres zur nicht bevormundeten moralischen Anstalt statt. Ostkunst und Westkunst mussten sich vielmehr den Herausforderungen explodierender ästhetischer Moden und Möglichkeiten im Fernsehen stellen, dem Hang zu exotischeren Storys und schnelleren Schnitten, der Begeisterung für immer selbstbewussteres schauspielerisches Virtuosentum und der allseits akzeptiertenTyrannis eines selbstherrlichen Individualismus.

Für Nostalgie und Ostalgie ist da kein Platz. Unter dem Geflacker der auftrumpfenden TV-Bilder und der Raserei des Plots bleibt alles Suchen nach Langsamem, nach Ahnung von echter Verzweiflung und innerer Anfechtung ein anstrengendes Unterfangen. Cornelia Ackers – sie hat den berühmten Bayerischen Polizeiruf geschaffen – schätzt das DDR-Erbe, das man sich inzwischen gesamtdeutsch erworben hat: „Das Bedienen der klassischen Krimimuster empfinde ich als ein viel zu enges Korsett. Die Eigenständigkeit der Polizeirufreihe bietet mir gewissermaßen einen Schutzraum für das soziale Erzählen, das Ausloten neuer Möglichkeiten, die ich nicht permanent legitimieren muss.“

„Zu Befehl, Genosse Leutnant!“

Es war tatsächlich Erich Honecker, der 1971 darauf bestanden haben soll, dass die DDR-Untertanen nicht jeden Sonntagabend republikflüchtig werden und mit dem westdeutschen „Tatort“ und seinem Brummelkommissar Trimmel massenhaft auf Verbrechertour gingen. Da Grenzanlagen gegen den Unterhaltungsdrang nicht möglich waren, ließ die Führung den „Polizeiruf 110“ als Konkurrenzprodukt

entstehen – unter amtlicher Vormundschaft, versteht sich. Das hieß: viel uniformiertes Vopo-Ballett, markige Funkdurchsagen, Hierarchie-Habt-Acht-Rituale („Zu Befehl, Genosse Leutnant“).

Der immer irgendwie melancholische, hinter Nüchternheit versteckte Defa-Grundton ist in den ersten „Polizeirufen“ ebenso spürbar wie die Vorliebe der Regisseure für statuarische Kameragruppierungen, für ein preußisches Marmor ohne königlichen Glanz. Vielleicht sollten das Brecht und dessen episches Theater sein. Aber eine Brechtsche Abwehr gegen überwältigende Affizierung war gar nicht nötig. Dazu waren in den frühen „Polizeiruf“-Jahren weder Darsteller noch Handlung verführerisch genug.

Der MDR zeigt an diesem Donnerstag den einst von der DDR-Obrigkeit verbotenen Polizeiruf „Im Alter von…“, der 1974 unter dem beinahe nach Dürrenmatt klingenden Arbeitstitel „Am hellerlichten Tag“ gedreht worden war und einen Mord mit pädophilem Hintergrund behandelt. Regisseur und Mitautor Heinz Seibert zeigt die Geschichte eines 13-jährigen Knabens, der beim Baden von einem Mann ermordet wird, der so verhindern will, dass seine perverse Neigung publik wird.

Über das ministerielle Ausstrahlungsverbot wurde zunächst gerätselt. Sollte die sozialistische Menschengemeinschaft vor solchen Abartigkeiten geschützt werden Die im Anschluss (21.25 Uhr) folgende, recht sehenswerte Dokumentation „40 Jahre Polizeiruf – eine Erfolgsstory“ enthüllt die historischen Gründe: Es war nichts als Angst und politischer Opportunismus der Politbüro-Funktionäre, diesen „Polizeiruf“ vom Bildschirm fernzuhalten. Dabei hatten die späteren Zensoren den Film ursprünglich in Auftrag gegeben: Vor Pädophilen sollte gewarnt werden. Das Ministerium des Inneren hatte den Redakteuren des Fernsehens einen Lehrfilm vorgeführt, in dem der Mitropa-Lehrling Erwin Hagedorn seine grausamen Sexualmorde nachspielt. In stark verfremdeter und entbrutalisierter Form entstand daraufhin das „Polizeiruf“-Drehbuch.

Dann aber enthüllte der westdeutsche Journalist und „Tatort“-Autor Friedhelm Werremeier, dass der Missetäter Hagedorn hingerichtet worden war, obwohl seine Taten teilweise unter das Jugendstrafrecht fielen. Auf einmal wollte der Auftraggeber nichts mehr von seinem Auftrag wissen. Zum Geist der 1975 unterzeichneten „Schlussakte von Helsinki“ hätten Berichte über die unbarmherzige Todesstrafe nicht gepasst. Das Sendeverbot sollte Empörung in der westlichen Öffentlichkeit verhindern.

Es knarzen die Vorurteile

Da eine stumme Kopie des Päderastendramas in den Archiven erhalten geblieben war und eine Drehbuchfassung entdeckt wurde, entschloss sich der MDR zum „Polizeiruf“-Jubiläum, den Film nachzusynchronisieren. Da zeigt sich leider, dass hier kein mutiges Glanzstück vor den Thronen der Staatsgewalt gescheitert ist, sondern ein trostlos betuliches Relikt von der Abraumhalde.Peter Borgelt als Oberleutnant Fuchs, Jürgen Frohriep als Oberleutnant und die weibliche Kollegin Arndt (Sigrid Reusse) spielen brav und uninspiriert, die
Handlung tuckert im Trabitakt, von Verständnis für Personen, besonders solche mit Abweichungen vom Normalverhalten keine Spur. Es knarzen die Vorurteile: Wer Tennis spielt, neigt zu sexuellen Gefährdungen, Männer, die in Schuppen schlafen und nicht neben Mutti, sind verdächtig. Schönfärberisch auch der Besuch im Gartenlokal: Im Film gibt es
dort, anders als in der damaligen DDR-Wirklichkeit, genug Platz, außerdem alles, was man bestellt und einen ungestressten Ober, der fragt, ob man zufrieden sei.

Als die alten DDR-„Polizeiruf“-Helden zur Wendezeit in ihren Filmen Schwierigkeiten mit Schimanski & Co. bekamen, war das kein Westkololonialismus, wie die Dokumentation andeutet, sondern überfällige Modernisierung.

Und alles wurde gut. 320 Folgen sind seit dem Start im Juni 1971 gelaufen, davon seit der Wende 168 in der ARD. 7,34 Millionen Zuschauer gibt es im Schnitt und einen Marktanteil von 20,5 Prozent. Prominente Regisseure und gute Schauspieler stören sich nicht an Honis Erfindung. Die Macher können stolz sein auf dieses Format, das unter ostdeutschem Titel zur gesamtdeutschen Fernsehkultur gehört. Unter 110 soll sich weiterhin nicht 08/15 melden.

Stern.de - Erstausstrahlung: Verbotener "Polizeiruf 110" auf MDR

23. Juni 2011

Ein Mitropa-Lehrling bringt in der DDR drei Jungen um. Der Fall ist die Vorlage für eine Folge der Krimireihe „Polizeiruf 110“. Doch die DDR-Machthaber verbieten den Film 1975. Der MDR zeigt den Streifen zum ersten Mal und mit synchronisiertem Ton.

Ein Krimi um den Krimi: Unter einer Kellertreppe verstauben Filmbüchsen mit brisantem Inhalt. Durch Zufall werden sie nach der Wende entdeckt, eine Kopie des Drehbuchs wird 2009 gefunden. Der brisante Inhalt: Es handelt sich um das Material für eine Folge der Krimireihe „Polizeiruf 110“, die 1975 von den DDR-Oberen verboten wurde. Der Film mit dem Arbeitstitel „Am hellerlichten Tag“ unter der Regie von Heinz Seibert durfte nicht gesendet werden – und alles Filmmaterial, alle Aufzeichnungen und Drehbuchexemplare sollten nach dem Willen der sozialistischen Machthaber vernichtet werden.

Durch einen Zufall entging jedoch das stumme Kameranegativ der angeordneten Zerstörung, wie der Mitteldeutsche Rundfunk berichtet. Der MDR strahlt die

verbotene Krimifolge mit dem neuen Titel „Im Alter von“ nun erstmals aus – an diesem Donnerstag (23. Juni) um 20.15 Uhr – passend zum Jubiläum, denn der „Polizeiruf 110“ wird am 27. Juni 40 Jahre alt.

Die Vorlage für das Drehbuch in der DDR war eine Mordserie, die zwischen 1969 und 1971 eine der bis dahin größten Polizeiaktionen in Ostdeutschland auslöste. Ein Mitropa-Lehrling hatte drei Jungen auf brutale Weise ermordet. Der Fall selbst wurde nicht verfilmt, aber ein Verbrechen an einem Jungen – um damit die Menschen in der DDR über Sexualstraftaten aufzuklären, wie es vom MDR heißt.

Doch warum wurde der Streifen verboten? In einer Dokumentation zum Thema 40 Jahre „Polizeiruf 110“, die im Anschluss an den Film im MDR (21.25 Uhr) ausgestrahlt wird, erfährt der Zuschauer die Hintergründe. Die DDR-Oberen befürchteten einen Skandal in den westlichen Medien, denn ein Journalist hatte herausgefunden, dass der tatsächliche Täter von einem Gericht zum Tode verurteilt worden war, obwohl er laut den Recherchen zum Zeitpunkt der ersten Morde nicht volljährig war.

Das Besondere an der jetzigen Version des Films unter der Regie von Hans Werner ist auch, das die ostdeutschen Schauspieler mit einer Synchronstimme versehen werden mussten – da das im Rundfunkarchiv Potsdam-Babelsberg zur Wendezeit gefundene Material ohne Ton war. So ist als Oberleutnant Peter Fuchs nicht Darsteller Peter Borgelt zu hören, sondern die Stimme von Oliver Stritzel. Der zwischenzeitlich verstorbene Schauspieler Jürgen Frohriep wird als Oberleutnant Jürgen Hübner von Andreas Schmidt-Schaller („Soko Leipzig“) synchronisiert und Major Wegner (Stanislaw Zaczyk) wird von Jaeckie Schwarz gesprochen. Er ist ansonsten in der Krimireihe selbst als Ermittler Herbert Schmücke an der Seite von Wolfgang Winkler als Herbert Schneider in Halle auf Verbrecherjagd.

Süddeutsche Zeitung

22.06.2011

Polizeiruf 110: "Im Alter von ..." Die verbotene Folge

Von Hannah Beitzer

Die Krimiserie „Polizeiruf 110“ verriet oft mehr über die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR als eigentlich erlaubt war. Das MDR feiert ihren 40. Geburtstag nun mit der Erstausstrahlung einer verbotenen Folge, die vom realen Fall eines Kindermörders inspiriert wurde – und der DDR-Führung beinahe einen handfesten Skandal bescherte.

Mörder, Vergewaltiger, Diebe, Kinderschänder – das alles sollte es eigentlich nicht mehr geben im real existierenden Sozialismus der DDR. Öffentlich sprach die Führung deswegen ungern über derartige Verbrechen. Die Ausgangsbedingungen für eine ostdeutsche Krimiserie waren in den siebziger Jahren also denkbar schlecht. Umso begeisterter schalteten die Zuschauer Westfernsehen ein – im Tatort bekamen sie Sex and Crime geliefert. Das wollten die DDR-Oberen natürlich nicht lange tolerieren – und riefen 1971 dann doch ihre eigene Krimiserie ins Leben: Polizeiruf 110.

Bis heute gilt der Polizeiruf im Westen der Republik als ungeliebter kleiner Bruder des ungleich populäreren Tatort. Das MDR beschwört deswegen am 40. Geburtstag der Serie vor allem den gesellschaftlichen Kontext herauf und rückt die Sendung so in ein mildes Licht. „Teilweise kommt es mir ein bisschen verkrampft vor“, resümiert Regisseur Bernd Böhlich in der euphorisch betitelten WDR-Dokumentation 40 Jahre Polizeiruf 110 – eine Erfolgsstory, „aber da denke ich mir dann: Ja, Gott, so waren wir halt einfach in dieser Gesellschaft.“ Schauspieler Henry Hübchen, der dank langer Matte und schmierigem Blick im Polizeiruf auf die Rolle des Bösewichts abonniert war, findet: „Das kommt einem vor wie ein Kindergarten, wie etwas, das man einfach liebhaben muss, weil es so gut gemeint ist.“

Ob das Projekt tatsächlich „gut gemeint“ oder doch eher eine gezielte Propaganda- Veranstaltung der DDR-Regierung war – darüber kann man streiten. Über die Umsetzung wachte jedenfalls das Ministerium des Inneren; es zeigte den Machern und Darstellern gestellte Dokumentarfilme über die Polizeiarbeit – oder besser gesagt über die Polizeiarbeit, wie sie eigentlich hätte sein sollen.

Um spektakuläre Fälle sollte es dabei nicht gehen, deswegen waren Morde beim Polizeiruf 110 eher die Seltenheit. Stattdessen ging es um Devisenschmuggel, Arbeitsunfälle und Diebstähle. Auch die Bösewichte waren reichlich stereotyp angelegt: Faulenzer, Taugenichtse,

Individuen fernab des gepriesenen Kollektivs. Die Botschaft: Der Sozialismus duldet keine Übeltäter. Das klingt heute, in

Zeiten von Privatfernsehen und amerikanischen Actionfilmen, furchtbar langweilig. Immerhin bescherte der Polizeiruf dem deutschen Fernsehen seine erste weibliche Ermittlerin: Sigrid Göhler stellte als Leutnant Vera Arndt schon Verbrecher, lange bevor beim Tatort an eine weibliche Kommissarin auch nur zu denken war.

Dass der Polizeiruf in der DDR ein Erfolg wurde, lag außerdem weniger an seinem Actiongehalt. Es gelang der Krimiserie wie nur wenigen DDR-Produktionen, die gesellschaftlichen Verhältnisse und Probleme im real existierenden Sozialismus zu zeigen. Alkoholismus war dabei ebenso ein Thema wie die Flucht in den Westen – natürlich wurde das eine wie das andere am Schluss eines jeden Polizeirufs ordentlich bestraft.

Dennoch hatte die Freiheit Grenzen – und die wurden nie deutlicher als in der Folge Im Alter von…, die der MDR am Jubiläumsabend vor der Dokumentation ausstrahlt.

Unter dem Arbeitstitel Am hellerlichten Tag griffen die Drehbuchautoren 1974 einen realen Fall auf: den des Kinderschänders Erwin Hagedorn, der zwischen 1969 und 1971 drei kleine Jungen ermordet hatte, dann verurteilt und per Kopfschuss hingerichtet wurde. Das Drehbuch entstand noch auf Anweisung des Ministeriums des Inneren – Kripo-Offiziere zeigten den Polizeiruf-Machern einen Dokumentarfilm, in dem der Täter selbst seine Taten genau erklärt und sie sogar mit einem Plastikmesser nachstellt – nicht etwa an Puppen, sondern an den Kindern von Ministeriumsangestellten. Für den Polizeiruf 110 sollte allerdings nicht der Täter, sondern die Ermittlungsarbeit der Polizei im Mittelpunkt stehen. Auch war der Pädophile darin kein junger Mann wie Erwin Hagedorn, sondern ein älterer Herr.

Doch Am hellerlichten Tag sollte nie gesendet werden. Kurz vor der Ausstrahlung wurde das Material komplett vernichtet. Der Grund: Der westdeutsche Journalist und Tatort-Drehbuchautor Friedhelm Werremeier hatte kurz zuvor von der Hinrichtung Erwin Hagedorns erfahren – und löste einen Skandal aus. Der Täter war nämlich zum Zeitpunkt der ersten Taten noch nicht volljährig gewesen und hätte deswegen nicht hingerichtet werden dürfen. Im Westen, wo die Todesstrafe längst abgeschafft war, stießen die Enthüllungen Werremeiers auf große Resonanz – die Hinrichtung diente als weiterer Beleg für die Unmenschlichkeit des DDR-Regimes. Danach wollte die Führung das Interesse am Fall Hagedorn nicht auch noch durch einen Kinderschänder-Polizeiruf steigern.

2009 tauchte dann im Deutschen Rundfunkarchiv Babelsberg ein unvertontes Kameranegativ der Folge auf. Viele der Schauspieler waren inzwischen verstorben, deswegen übernahmen aktuelle Polizeiruf-Darsteller die Synchronisierung. Und so gelingt es dem Polizeiruf 110 wenigstens an seinem 40. Geburtstag, den Tatort zu übertrumpfen: Staatlich angeordnete Vernichtung, wundersame Rettung, liebevolle Aufarbeitung, späte Ausstrahlung – eine derart krimireife Entstehungsgeschichte ist bisher keiner Tatort-Folge vergönnt gewesen.

Tagesspiegel, 22.06.2011

DDR-Krimi, alt und neu

Leiche aus dem Keller

Von Andreas Maisch

Das DDR-Fernsehen versteckte den „Polizeiruf 110: Im Alter von…“. Jetzt läuft der fertig gestellte Film im MDR.

Till sucht überall, in den Büschen am Rand des Sees, in der Fischerhütte und im angrenzenden Wald. Doch er kann seinen Schulfreund Ben, mit dem er sich zum Baden verabredet hatte, nicht finden. Schnell fährt er mit dem Rad zu Bens Mutter, um ihr zu sagen, dass ihr Sohn verschwunden ist. Die Miene der Mutter verfinstert sich schlagartig. Die Polizei wird eingeschaltet, sie findet den 13-Jährigen tot im Wald. Dies ist eine Szene des „Polizeiruf 110: Im Alter von …“, den die Fernsehzuschauer nach dem Willen der DDR-Führung nie zu sehen bekommen sollten und den der MDR an diesem Donnerstagabend zeigt. Gedreht wurde der Krimi 1974 in der DDR – inspiriert von einer echten Mordserie, die im brandenburgischen Eberswalde zwischen 1969 und 1971 passierte.

Damals hatte der minderjährige Kochlehrling Erwin Hagedorn drei Jungen auf brutale Weise ermordet. Für polizeiinterne Lehrfilme musste er seine Morde nachstellen, das Ministerium des Inneren zeigte diese Bilder dem Team des „Polizeirufs“. Es sollte im Auftrag des Ministeriums darüber einen Film drehen, um über Sexualstraftaten aufzuklären. So grausam wie die Realität sollte der Krimi aber nicht werden. Deshalb änderten die Fernsehleute den Fall deutlich. Doch nach den Dreharbeiten entschieden sich die

Leiter des DDR-Fernsehens um und verboten die Ausstrahlung. Das komplette Filmmaterial sollte auf Wunsch des Ministeriums vernichtet werden. Nur durch Zufall überstand das unvertonte und ungeschnittene Kameranegativ die Wende. Als 2009 ein Exemplar des Drehbuchs gefunden wurde, entschloss sich der MDR dazu, den Krimi fertigzustellen und zu senden.

In der 2011 produzierten Version leihen die aktuellen Darsteller des „Polizeirufs“ ihren Vorgängern ihre Stimme. Jaecki Schwarz, der aktuell den Hauptkommissar Herbert Schmücke gibt, spricht Major Wegner (Stanislaw Zaczyk). Andreas Schmidt-Schaller, der den Kommissar Thomas Grawe bis 1995 gespielt hatte, übernimmt Oberleutnant Jürgen Hübner (Jürgen Frohriep), der neben Peter Borgelt der wohl berühmteste TV-Kommissar der DDR war.

Das damalige Verbot des Films erklärt der MDR heute damit, dass die DDR den Westen nicht auf den realen Hintergrund des Krimis aufmerksam machen wollte. DDR-Richter hatten Hagedorn zum Tode verurteilt, obwohl dieser während seiner Taten nicht volljährig war. Auf diesen problematischen Beschluss sollte der „Polizeiruf 110“ nicht aufmerksam machen. Für den damaligen Regisseur Heinz Seibert bedeutete der Krimi das Ende seiner Karriere. Er wurde von dem DDR-Fernsehen gemieden und erhielt nur noch kleinere Aufträge.

Für den MDR gehören der Film und sein Schicksal zur Geschichte der Krimireihe. Deshalb hat sich der Sender jetzt dazu entschlossen, den Film fertigzustellen und zu zeigen. „Die vorliegenden Filmbilder und der erzählte Fall haben uns überzeugt, dass dieser Film auch heute noch für die Fernsehzuschauer von Interesse ist“, sagt MDR-Redakteur Wolfgang Voigt.

Für einen DDR-„Polizeiruf“ ist eher ungewöhnlich, dass sich ein Mord ereignet – gar ein Mord an einem Kind. Ganz nach DDR-Geschmack zeichnet „Im Alter von …“ ein Bild von unermüdlichen Volkspolizeibeamten, die nach dem Mörder des Schuljungen suchen. Wenn Mord und Totschlag in der sozialistischen Serie denn schon vorkommen sollten, hatten die Bilder offenbar einen gut ausgestatteten Polizeiapparat zu zeigen, der die Täter zur Strecke bringt.

Im Vergleich zu heutigen Krimis behandelt der „Polizeiruf 110: Im Alter von …“ die Arbeit der Ermittler besonders ausführlich und verzichtet auf Szenen mit Schießereien, wilde Verfolgungsjagden, auch die Leiche des Jungen ist nicht zu sehen. Anstelle eines dominanten Kommissars mit hohem Redeanteil findet ein vierköpfiges Ermittlerteam den Täter. Hier zeigt sich ein weiterer Unterschied des DDR-Fernsehens zum West-„Tatort“ der 1970er Jahre: Mit Sigrid Reusse als Leutnant Vera Arndt ist eine Frau unter den leitenden Ermittlern. Wenn sie spricht, ertönt die Stimme von Anneke Kim Sarnau, die im aktuellen „Polizeiruf 110“ die Profilerin Katrin König spielt.

In einem Punkt unterscheidet sich „Im Alter von …“ allerdings nicht von West-Krimis: Wer der wahre Täter ist, wird erst am Schluss aufgedeckt.

„Polizeiruf 110: Im Alter von …“, MDR, 20 Uhr 15

TAZ, 23.06.2011

VERSCHOLLENE "POLIZEIRUF 110" - FOLGE - Eine verspätete Premiere

Eine 1974 in der DDR verbotene und über Jahrzehnte verschollene „Polizeiruf 110“-Folge wird erstmals gesendet. Der Krimi zeigt ein Verbrechen, das der Stasi missfiel.

VON SVEN SAKOWITZ

Es klingt zunächst nur nach einer filmischen Fingerübung eines Krimi-Nerds: Der Dresdner Filmproduzent Stefan Urlaß hat für den MDR eine 1974 gedrehte Folge der DDR-Krimireihe „Polizeiruf 110“ rekonstruiert. Der Film mit dem Titel „Im Alter von?“ durfte damals nicht zu Ende produziert werden, das Material galt als vernichtet, bevor es 2009 beim Deutschen Rundfunkarchiv in Babelsberg entdeckt wurde.

Es gibt keine Tonspur, aber das Drehbuch tauchte durch einen Zufall wieder auf – und mithilfe aktueller „Polizeiruf 110“-Darsteller wurde die Produktion synchronisiert. Da stellt sich die Frage: Musste das sein? Gibt es nicht genug altbackene „Polizeiruf“-Episoden, die ständig wiederholt werden?

Ja – denn bei genauerer Betrachtung erzählt das Projekt von Stefan Urlaß eine spannende Geschichte. Es ist eine Geschichte von DDR- Muff, Stasi und Zwang. Aber irgendwie auch eine von kleinen Freiräumen und leiser Kritik. Sie beginnt am 24. November 1972 in einem Vorführraum des Ministeriums des Innern der DDR. Zu Gast sind dort „Polizeiruf“-Kreative, denen ein Lehrfilm der Polizei präsentiert wird. Sie sehen, wie der Mörder Erwin Hagedorn seine Taten nachstellt.

DDR-Muff, Stasi und Zwang

Zwischen Mai 1969 und Oktober 1971 hatte der 1952 geborene Hagedorn in Eberswalde drei Jungen ermordet. Acht weitere Morde soll er vorbereitet sowie mehrfach sexuellen Missbrauch von Kindern begangen haben. Bei der Fahndung nach einem „pädophilen Blutsadisten“ (Täterprofil) konnte Hagedorn im November 1971 gefasst werden. Er gestand, wurde im Mai 1972 zum Tode verurteilt und am 15. September 1972 hingerichtet.

„Beim Ministerium des Innern gab es die Meinung, dass man sich in der DDR mit dem Thema Sexualverbrechen beschäftigen muss“, sagt Produzent Stefan

Urlaß, der umfangreich zum Verbot der „Polizeiruf-Folge recherchiert hat. „Die Aufgabe der ‚Polizeiruf‘-Vertreter war es nun, mit einem Film die Bevölkerung auf dieses Thema aufmerksam zu machen. Nur allzu dicht an dem Hagedorn-Fall sollten sie sich nicht orientieren, der schien den Behörden einzigartig in seiner Brutalität.“

Angst vor einer Debatte über die Todesstrafe

Regisseur Heinz Seibert überarbeitet ein Drehbuch der Autorin Dorothea Kleine, streicht Anspielungen auf die Ereignisse in Eberswalde, und im September 1974 beginnen unter dem Arbeitstitel „Am hellerlichten Tag“ die Dreharbeiten. Erst läuft alles nach Plan, aber kurz vor seinem Abschluss wird der Dreh abrupt beendet.

„Heinz Seibert erstellte noch einen Rohschnitt, dann mussten auf Anweisung der Leitung des DDR-Fernsehens die Drehbücher, das Filmmaterial und sämtliche Unterlagen abgegeben werden – die Gründe wurden den Beteiligten nicht mitgeteilt“, erzählt Urlaß. Erst nach der Wiedervereinigung erfahren sie, dass ihr Film eingestellt wurde, weil die DDR-Führung Angst vor einer Debatte über die Todesstrafe in ihrem Land hatte.

Im Herbst 1974 nämlich erhält die Staatssicherheit Hinweise, dass der westdeutsche Journalist Friedhelm Werremeier zum Fall Hagedorn recherchiert. Zu dem Zeitpunkt ist im Westen nicht bekannt, dass Hagedorn hingerichtet wurde. „Die SED-Spitze ging davon aus, dass diese Nachricht einen Skandal auslösen würde – zumal die Frage nach Hagedorns Schuldfähigkeit während des Prozesses ebenso wenig eine Rolle spielte wie die Tatsache, dass Hagedorn bei den ersten beiden Morden nicht volljährig war“, sagt Urlaß.

Paranoia im DDR-Sozialismus

Auf Teufel komm raus soll also vermieden werden, dass der Westen die DDR als juristisch und gesellschaftlich rückständig an den Pranger stellen kann – schließlich sind die Bestrebungen nach internationaler Anerkennung der DDR zu der Zeit gerade erfolgreich. Der Fall Hagedorn wird tabuisiert und in diesem Zuge auch die „Polizeiruf“-Episode gestoppt, die nur entfernt an den Fall erinnert. Ein schönes Beispiel für Paranoia im DDR-Sozialismus. Genützt hat alle Vorsicht nichts: Werremeier publiziert 1975 eine Artikelreihe sowie ein Buch zum Thema Hagedorn.

Ein Nachspiel hat die Geschichte für Regisseur Seibert: Da er über die Hintergründe des Verbots nicht informiert ist, kämpft er für seinen Film und wird deshalb kaltgestellt. Er bleibt zwar Angestellter des Fernsehens der DDR, darf aber nur noch Kleinkram produzieren. „Mit der Rekonstruktion schließen wir eine Lücke in der ‚Polizeiruf‘-Geschichte, und den Künstlern widerfährt ein Stück weit Gerechtigkeit“, sagt Urlaß denn auch mit Blick auf den heute 80 Jahre alten Regisseur.

Nach 37 Jahren kann das Publikum nun sehen, wie Oberleutnant Fuchs (Peter Borgelt) versucht, den Mord an einem Jungen aufzuklären. Den filmischen Wert schätzt Urlaß realistisch ein: „Die Folge sticht nicht unbedingt heraus, aber sie ist von solider Qualität und spannend. Es ist interessant, zu sehen, wie vorsichtig mit dem Thema umgegangen wurde. Vielleicht macht ihn gerade das heute sehenswert.“

Kriminelle sind einzelne Irrläufer

Trotz dieser Verbotsgeschichte betonen Urlaß und viele der zu DDR-Zeiten am „Polizeiruf“ Beteiligten dessen Vorzüge. „Die Reihe hat im Fernsehen der DDR die größte Freiheit von allen Sendungen gehabt, und wir haben jede notwendige Unterstützung bekommen“, sagt zum Beispiel Eberhard Görner, der als Mitbegründer, Dramaturg und Autor dabei war. Die Ausnahmen überraschen wenig: „Kriminalität in der Partei war ein Tabu. Dass mal ein Parteisekretär kriminell geworden wäre oder so etwas – das war ausgeschlossen. Wir haben zwar angesprochen, ob man darüber nicht mal einen Film machen kann, aber das war nicht möglich.“ Stattdessen sind die Kriminellen einzelne Irrläufer, die den Anschluss an die Gesellschaft verpasst haben.

Auf Sendung geht „Polizeiruf 110“ im Juni 1971 als Konkurrenzprodukt zum ein Jahr zuvor gestarteten West-Erfolg „Tatort“, der sich in der DDR allzu großer Beliebtheit erfreut. Von Beginn an sind sogenannte Fachberater des Ministeriums des Innern beim „Polizeiruf“ beratend und überwachend tätig und sorgen dafür, dass die Geschichten im Sinne der Staatsführung erzählt werden. Dennoch entstehen tatsächlich gesellschaftskritische Folgen. Themen sind unter anderem der triste Alltag, Mangelwirtschaft, Alkoholmissbrauch, sogar die Möglichkeit der Flucht wird in einer Folge thematisiert.

„Wir haben versucht, aus jedem ,Polizeiruf‘ eine Röntgenaufnahme zu machen, durch die eine Krankheit im real existierenden Sozialismus sichtbar wird“, sagt Eberhard Görner. „Und dann war die Frage: Warum gibt es diese Krankheit? Es wurde ja behauptet, dass die Gesellschaft progressiv und gesund ist und ihr die Zukunft gehört. Es war spannend, sich über die filmische Arbeit mit den Konflikten in der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Jeder Dampfkessel braucht ein Ventil, und wir waren das Ventil für den Dampfkessel DDR.“

Das ungeliebte, ostige Stiefkind

Das ist vielleicht schönfärberisch formuliert, hat aber einen wahren Kern. Die hohe handwerkliche Qualität und die Beliebtheit der Reihe jedenfalls waren Gründe dafür, dass es der „Polizeiruf“ als einzige DDR-Produktion ins ARD-Programm geschafft hat.

Dort war er viele Jahre lang das ungeliebte, ostige Stiefkind. Jetzt, zum 40-jährigen Jubiläum, präsentiert sich der „Polizeiruf“ mit neuen Ermittlerteams mutig und modernisiert. Anneke Kim Sarnau und Charly Hübner glänzen in originellen Geschichten aus Rostock, in der Jubiläumsfolge „Die verlorene Tochter“ ist am kommenden Sonntag erstmals Maria Simon an der Seite des alten Recken Horst Krause in Brandenburg zu sehen, und am 14. August geben Matthias Brandt und Anna Maria Sturm in München ihr Debüt. Zum Jubiläum hat die ARD die Fenster weit aufgemacht und den „Polizeiruf“ ordentlich durchgelüftet – der DDR-Muff ist dabei endgültig verschwunden.

The Guardian, 23.06.2011

Helen Pidd in Berlin
guardian.co.uk, Thursday 23 June 2011 17.11 BST

An episode of an East German police TV drama banned by the politburo during the cold war is to get its premiere 37 years on. The storyline in Polizeiruf 110 (Dial 110 for Police) about a murderous paedophile was censored in 1974 because the GDR government feared it would lead to an uncomfortable debate about the death penalty.

The tapes were confiscated shortly before broadcast and assumed lost until they were found in the German Broadcasting Archive in Babelsberg, near Berlin, in 2009. The recovered footage had no sound, but, after the script also came to light, director Stefan Urlass recreated the dialogue with the help of actors from the long-running series, which celebrates its 40th anniversary this year. Urlass has spent much of the past two years working on the reconstruction of the episode, which will be broadcast on Thursday night.

Polizeiruf 110 was conceived in 1971 as a competitor to the West German police series, Tatort (Crime Scene), which had become a big hit over the border. Keen that East German citizens did not tilt their TV antennas towards the west, the government asked state broadcasters to come up with their own version.

From the start, an „adviser“ from the ministry of the interior was on hand to oversee proceedings.

The episode was concerned with a notorious murderer called Erwin Hagedorn, who between May 1969 and October 1971 had sexually abused and killed at least three young boys in the East German town of Eberswalde.

He was sentenced to death and was shot in the head by firing squad in Leipzig on 15 September 1972 – a fact which was withheld from the Polizeiruf team as well as the general population.

„The interior ministry just told Polizeiruf that they thought it would be a good idea, in the light of the Hagedorn case, to do something about sex crimes,“ Urlass said on

The Polizeiruf producers were tasked with producing an episode loosely based on the Hagedorn case. But just before filming was over, the government confiscated the material without giving a reason. „The top brass in the SED [ruling party] had a guilty conscience for what they had done to Hagedorn and they were afraid it would come out,“ said Urlass. Capital punishment was a matter of controversy in Europe at that time, plus the question of Hagedorn’s criminal culpability had been raised during the trial, as well as the fact that Hagedorn was under the age of criminal responsibility at the time of the first two murders.

Talking about his prosecution became taboo, and the episode was scrapped, less it remind viewers of the case. The original director, Heinz Seibert, fought for the film to be shown and was sent out into the cold as a result, Urlass said.

MDR, a German regional state broadcaster, said it decided to commission the reconstruction as a history project. „The footage and script convinced us that this programme will still captivate viewers,“ said Jana Brandt, head of TV drama.

Tittelbach TV, 20.06.2011

Rekonstruktion eines fast vernichteten "Polizeirufs"

„Der Polizeiruf 110 – Im Alter von…“ erlebt nach 27 Jahren seine verspätete (rekonstruierte) Erstaufführung. Das Filmprojekt war ein ungeliebtes Kind. Rohschnitt, Kopie, Aufzeichnungen, alle Drehbuchexemplare wurden vernichtet. Durch einen Zufall blieb das stumme Kamera-Negativ erhalten. Der Film erzählt von einem pädophil- homosexuell motivierten Mord, einem Phänomen, das es so in der DDR nicht geben durfte. Gute Synchronisation. Ein Dokument von hohem politischen und fernsehhistorischen Wert.

„Der Polizeiruf 110 – Im Alter von…“ erlebt nach 27 Jahren seine verspätete Erstaufführung. Das Filmprojekt war ein ungeliebtes Kind. Zunächst wurde das Drehbuch von Dorothea Kleine nicht abgenommen. Es war nach einem authentischen Kriminalfall entstanden, der 1969 bis 1971 eine der größten Polizeiaktionen der DDR auslöste. Ein minderjähriger Homosexueller hatte drei Jungen auf brutale Weise ermordet. Für die Programmverantwortlichen war das Skript zu nah an der Realität. Der Autor-Regisseur Heinz Seibert schrieb daraufhin eine Neufassung, in der er die Ermittlungsarbeit der Polizei in den Vordergrund stellte.

Das Ministerium des Inneren befürwortete daraufhin die Produktion. Doch Seibert kam nur bis zur Rohschnittfassung. Dann war Schluss. Für den mehrfachen „Polizeiruf“-Regisseur gab es künftig keine Aufgabe mehr im Bereich Fernsehdramatik. Der Film wurde nicht fertig gestellt. Alles Material wurde vernichtet: Rohschnitt, Kopie, Aufzeichnungen, alle Drehbuchexemplare. Durch einen Zufall entging das stumme Kamera-Negativ der angeordneten Vernichtung. 2009 tauchte das Material wieder auf. Der MDR konnte so – rechtzeitig zum Jubiläum – eine Rekonstruktion des Films mit dem ungeliebten Stoff erstellen. Schauspieler der aktuellen „Polizeiruf“-Reihe liehen den Kollegen von 1974 ihre Stimme.

Erzählt wird die Geschichte eines Kindsmordes. Oberleutnant Fuchs war ein Freund der Familie des toten Jungen. Gerade hatte er die verwitwete Jenny Gerlach, die Frau seines besten Freundes wieder getroffen und sich mit ihrem Sohn angefreundet. Aus diesem Grund wird Fuchs vom Fall abgezogen. Akribisch genau – wie stets im „Polizeiruf“ zu DDR-Zeiten – wird die Ermittlungsarbeit von Oberleutnant Hübner & Co dargestellt. „Polizeiruf“-Arbeit ist Sisyphos-Arbeit. Der Zuschauer weiß mehr, aber den Täter kennt auch er nicht – das ist noch anders als in vielen Filmen der Reihe aus den 80er Jahren. Die Volkspolizisten ziehen früh eine Tat „mit sexuellem Hintergrund“ in Betracht. Zwei Männer mit deutlich homosexuellen und pädophilen Neigungen kommen ins Spiel. Anders als die ersten Filme der Reihe (beispielsweise „Der Fall Lisa Murnau“) entwickelt „Im Alter von…“ eine dramaturgische krimispezifische Grundspannung. Auch wird nicht alles bis ins letzte Detail erklärt. Der Film ist sehr szenisch gebaut, dialoglastig, wirkt aber durch die Farbe und die zahlreichen Außen-Szenen frischer und „realistischer“ als die „Polizeiruf“-Folgen in Schwarzweiß. Sehr gut gelungen ist die Synchronisation im Schauspiel-Retro-Stil der 70er Jahre. Die Rekonstruktion von „Im Alter von…“ ist als politisches & fernsehhistorisches Dokument von hohem Wert.

Der Film erzählt von einem Verbrechen, einem pädophil-homosexuell motivierten Mord, einem Phänomen, das es so in der DDR einfach nicht geben durfte. Vielleicht missfielen dem Ministerium des Inneren auch einige Zwischentöne. Die verständnisvolle, liberale Haltung der hochrangigen Volkspolizisten beispielsweise: Privatinteresse vor Staatsinteresse klingt da in manch einem Dialog durch. „Die Eltern lehnen ab, dass wir den Jungen weiter befragen“, berichtet Oberleutnant Hübner. „Ja, wir müssen respektieren, dass die Eltern ihren Jungen schützen wollen.“ Und im Hintergrund wacht das Konterfei vom ersten Mann im Staate. Ob der diesen Dialog gutheißen würde? In einer anderen Szene rastet der vom Fall abgezogene Fuchs aus. Da zeigt der Oberleutnant Gefühle und eine kritische Haltung kommt zum Vorschein. „Prinzipien, Vorschriften, Anweisungen… Wenn wir die nicht hätten! Wahrscheinlich könnten wir nicht ohne leben. Aber das Leben besteht nicht nur aus Prinzipien und Vorschriften.“ So nicht, Herr Leutnant. Material vernichten!

(Text-Stand: 20.6.2011)

TV-Spielfilm

Im Alter von…

TV-Krimi. 1974 in der DDR verboten! Die Krimi-Rarität zeigt ein Verbrechen, das nicht sein durfte.

Oberleutnant Fuchs (Peter Borgelt) freut sich, die Journalistin Jenny und ihren Sohn wiederzusehen. Kurz darauf ist der elfjährige Ben tot – offenbar missbraucht von einem homosexuellen Serientäter…Der Krimi wirkt betulich, war DDR-TV-Chefs einst aber zu brisant. Er verschwand im Archiv. Neu bearbeitet und synchronisiert taugt er heute als Zeitzeugnis.

TV Today

Krimi-Verbot

Polizeiruf 110: Im Alter von... (Kriminalfilm DDR 1974/MDR 2011) MDR/DRA Der Polizeiruf, der nicht sein durfte

Ein Junge verschwindet. Der Verdacht, dass ein sexuell motiviertes Gewaltverbrechen dahintersteckt, bestätigt sich. Der Polizeiruf: Im Alter von… orientiert sich an dem Fall Erwin Hagedorn. Der Kochlehrling hatte drei Jungen sadistisch ermordet und wurde 1971 festgenommen.

Die anfängliche Befürwortung einer fiktionalen Aufarbeitung der bis dahin in der DDR beispiellosen Tat kippte, als sich auch im Westen Krimiautoren des Falls annahmen. Die Dreharbeiten wurden 1974 beendet, das Filmmaterial beschlagnahmt. Regisseur Heinz Seibert blieb zwar Angestellter des DFF, durfte aber nie wieder einen Polizeiruf drehen.

Mörder Hagedorn dagegen wirkte in einem Polizeilehrfilm über seine eigenen Verbrechen mit. Die emotionslose, aber sehr anschauliche Darstellung seiner Taten war angeblich ausschlaggebend für die Härte seines Urteils: Hagedorn wurde am 15. September1972 hingerichtet.

Der durch ihn inspirierte „Polizeiruf“ galt jahrzehntelang als verschollen. Erst 2009 taucht er bei der Identifizierung einiger Filmrollen aus der Hinterlassenschaft des DFF wieder auf. Was der MDR nun mit seiner neu synchronisierten Fassung zeigt, ist kein filmisches Meisterwerk, aber ein interessantes Zeitdokument.

TV Today

Krimi -Entdeckung

Gute Quoten für verbotenen Polizeiruf

Mit der Ausstrahlung einer vor 37 Jahren verbotenen „Polizeiruf“- Folge erreichte der MDR gestern dreimal so viele Zuschauer wie an sonstigen Tagen.

(TV News, 24.6.2011) Quasi als Antwort auf die erfolgreiche TV-Reihe „Tatort“ startete vor 40 Jahren der „Polizeiruf 110“ im DDR-Fernsehen. Das war dem MDR gestern ein Themenabend wert. Eine gute Idee: der Sender erreichte mit dem Krimi-Special sehr gute Quoten.

Die 1974 ins Archiv verbannte und jetzt rekonstruierte und neu synchronisierte Folge „Polizeiruf 110: Im Alter von…“ sahen 1,89 Millionen Zuschauer, was einem Marktanteil von 6,7 Prozent entsprach. An „normalen“ Abenden pendelt sich dieser Wert eher so um die zwei Prozent ein!

Die anschließende Doku „40 Jahre Polizeiruf – Eine Erfolgsstory“ sahen immer noch 1,3 Mio. (4,4%). Erst beim Porträt der beiden „Polizeiruf“- Kommissare Jaecki Schwarz und Wolfgang Winkler waren die MDR-Gucker wieder unter sich: 580 000 Zuschauer sorgten für 2,6% Marktanteil. Eine abschließende „Polizeiruf“-Folge erreichte zu guter Letzt immer noch 470 000 Zuschauer (3,2%).

TV Wunschliste, 24.06.2011

Erfolgreiche Premiere für einst verbotenen "Polizeiruf 110"

1974 verboten, 2011 nun doch auf Sendung – und dies äußerst erfolgreich. Der MDR zeigte am gestrigen Donnerstagabend den „Polizeiruf 110“ mit dem Titel „Im Alter von…“. Einst sollte sämtliches Filmmaterial dieser Episode auf Befehl des Ministeriums des Inneren der DDR vernichtet werden, doch der Rohschnitt überlebte. Nach Abschluss der Rekonstruktion und Neusynchronisation ging der Fall passend zum 40-jährigen Jubiläum der Reihe auf Sendung (wunschliste.de berichtete).

Das Publikumsinteresse an diesem außergewöhnlichen Stück Fernsehgeschichte war groß. 1,89 Millionen Zuschauer schalteten ein, was einem Marktanteil von 6,3 Prozent beim Gesamtpublikum entsprach – dreifach höher als der gewohnte Senderschnitt. Im MDR-Gebiet alleine lag der Marktanteil sogar noch um einiges höher, bei 26,3 Prozent.

Auch der weitere Verlauf des langen „Polizeiruf“-Abends war für den MDR recht erfolgreich,
wobei vor allem die Dokumentation „40 Jahre Polizeiruf – Eine Erfolgsstory“ (1,3 Millionen / 4,4
Prozent MA) und der schwarz-weiße „Polizeiruf 110: Das Ende einer Mondscheinfahrt“ (470.000 Zuschauer / 3,2 Prozent MA) überzeugen konnten.

24.06.2011 – Ralf Döbele/wunschliste.de

YAHOO! NACHRICHTEN

Rekonstruierter DDR-Polizeiruf erreicht fast zwei Millionen Zuschauer

dapd – Fr., 24. Jun 2011

Leipzig (dapd). Den rekonstruierten DDR-„Polizeiruf 110“ von 1974 haben am Donnerstagabend deutschlandweit 1,9 Millionen Zuschauer gesehen. Das sei ein neuer Jahreshöchstwert für den Sender, teilte der MDR am Freitag in Leipzig mit. Die Quote habe bundesweit bei 6,3 Prozent gelegen, in Mitteldeutschland bei 26,3 Prozent.

Der Krimi „Im Alter von…“ befasst sich mit Pädophilie in der DDR. Kurz vor Fertigstellung hatte das Innenministerium in Ost-Berlin jedoch den Abbruch der Produktion angeordnet, 2009 tauchte das unvertonte und ungeschnittene Material sowie eine Kopie des Drehbuchs wieder auf und wurde rekonstruiert. Die Stimmen kamen von heutigen und ehemaligen Polizeiruf-Darstellern. So übernahm Jaecki Schwarz die Synchronstimme von Stanislaw Zaczyk alias Major Wegner, Anneke Kim Sarnau sprach Sigrid Reusse (Göhler) in der Rolle von Leutnant Vera Arndt und Oliver Stritzel übernahm den Part von Peter Borgelt als Oberleutnant Peter Fuchs.

Die Fernsehspielchefin des MDR, Jana Brandt, sagte, die vorliegenden Bilder und das Drehbuch hätten den Sender überzeugt, dass dieser Film auch heute, 37 Jahre später, die Zuschauer in seinen Bann ziehen würden. „Wir haben damit ein Stück Zeitgeschichte wieder lebendig gemacht.“

MDR Info, 23.06.2011

MDR Figaro (heute MDR Kultur), 23.06.2011

MDR Sachsenspiegel, 23.06.2011

MDR um Zwölf, 23.06.2011

MDR Hier ab Vier, 23.06.2011

MDR Artour

MDR Barbarossa

MDR Riverboat

NDR Kulturjournal, 20.06.2011

Markos Medienpodcast